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Ich Roque Paraguay - Fritten, Fussball & Bier
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Ich Roque Paraguay

Hier schreibt Mark Scheppert eine Kolumne oder sagen wir mal seine Erlebnisse für Fritten, Fussball & Bier auf. Mark Scheppert ist der Autor des wunderbaren Buches „90 Minuten Südamerika“ und ist im Netz unter www.markscheppert.de zu finden.

Ein kleiner Hinweis zu Beginn der Geschichte: Wir befinden uns im Jahre 2006, dem Jahr der Weltmeisterschaft in Deutschland…

Bus„Wo sind wir?“, frage ich den Busfahrer bereits das dritte Mal. Er nimmt den Kugelschreiber aus der Hemdtasche, kritzelt etwas auf einen Zettel und verschwindet dann. „Clorinda.“ Angestrengt blättere ich in unserem Reiseführer. „Sind wir bescheuert oder was?“ rufe ich zu Sylvie hinüber. „Wir haben uns verfahren. Das Kaff ist an der Grenze zu Paraguay.“ Ich kann es noch immer nicht glauben. Wie kann man sich denn mit einem Linienbus verfahren?

Meine Freundin schaut mich aus müden Augen an und murmelt: „Paraguay?“

Es besteht eigentlich kein Grund, in dieses Land zu reisen, denn es gibt dort vermeintlich „Nichts“. Keinen tosenden Ozean, keine schneebedeckten Andengipfel, keine restaurierten Altstädte, keine gegrillten Fleischberge, keine Punkrock-Kneipen, keine trinkbaren Weine und kein Bier vom Fass. Dafür bitterarme Menschen, die in Baracken an stinkenden Flüssen mit Mücken, die das Denguefieber übertragen, hausen. Zudem noch unsichere Städte und eine korrupte Militärregierung, die verängstigten Einwohnern den Marsch bläst. Noch einmal schaue ich mir die Karte an. Wenn wir über Asunción reisen würden, wäre das sogar eine Abkürzung in Richtung der Iguazú-Wasserfälle – unserem eigentlichen Ziel. Ich schnappe meinen Rucksack und rufe: „Paraguay!“

Auf dem Weg zur Grenze, versuche ich Sylvie zu beruhigen. Wir werden ein neues Land erkunden und einen Scheiß darauf geben, was in Reiseführern steht. Bisher hatten wir doch schon oft viele Dinge vollkommen anders empfunden. Es winkt nicht nur ein neuer Stempel im Reisepass, sondern einmalige Abenteuer.

Gerädert erreichen wir den Schlagbaum. Sahen wir bis eben noch liebevoll sanierte Gebäude, Fußgängerzonen mit Grillrestaurants, teure Autos, klimatisierte Busse und schicke große Wachsoldaten, reisen wir nun wieder ins ursprüngliche Südamerika. Mit einem alten Taxi überholen wir Pferdewagen, schrottreife Dieselbusse, klapprige Autos und fahren, vorbei an zerfallenen Hütten, auf holprigen Straßen in Richtung Hauptstadt. Der freundliche Fahrer setzt uns an einem gewöhnlichen Hotel ab, das ungewöhnlich teuer ist. Er vermutet wohl, dass dies für seine deutschen Ehrengäste angemessen wäre. Viele ausländische Touristen fahren nicht in sein Land, hatte er uns zuvor erklärt. Dass wir für den schlierigen Pool im Hof mitbezahlen und auch die Zimmer im 80erJahre Stil ihre schönste Zeit längst hinter sich haben, nennen Pauschaltouristen wohl verdeckte Mängel. Laut Reiseführer befinden wir uns hier in einem unsicheren Stadtteil.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEgal, wir sind müde und nehmen es für eine Nacht in Kauf. Für mich ist heute eh ein wichtiger Tag, denn Deutschland spielt sein zweites Gruppenspiel. Da können wir die Zeit nicht mit schnöder Zimmersuche vertrödeln. Auf dem Klo studiere ich lange den Stadtplan, dusche und streife mein Deutschland-Trikot über.

Endlich entdecken wir ein Café mit mehreren Fernsehern. Es sind sehr wenige Leute hier und wir fallen nicht sonderlich auf. Zunächst! Das ändert sich in der 91. Minute als Neuville das heiß ersehnte 1:0 ins Tor der Polen donnert. Ich renne vor die Tür. Nicht nur durch Dortmund und sämtliche Fanmeilen in Deutschland schallt ein Aufschrei der Erlösung. Auch ganz Paraguay – zumindest vier, fünf Straßenzüge von Asuncion – hört meinen Jubel. Ich denke kurz: ‚Ach du Scheiße! Was für gewaltige Emotionsausbrüche ein Fußballspiel mittlerweile in mir erzeugen kann.’, und nicke den grinsenden Passanten entschuldigend zu. Fast alle Kneipengäste kommen zum Gratulieren heraus und fragen „Mañana Paraguay aqui?“ (Morgen Paraguay hier?).

OLYMPUS DIGITAL CAMERAMit furchtbaren Magenkrämpfen, schleicht Sylvie gekrümmt hinter mir her. Sie hatte sich im arktisch kalten Bus eine Grippe eingefangen. Leider ist sie für den Rest des Tages außer Gefecht und bleibt in unserer heruntergekommenen Nobelherberge. Ich bummele allein durch das historische Zentrum. Asunción ist nicht elegant und prachtvoll, aber irgendwie charmant. Viele kolonialzeitliche Häuser, Plätze und Fassaden zeugen von früherem Glanz. Es ist eine trotzige Schönheit. Die Menschen sind so freundlich, dass ich, entgegen meiner Art, sogar eine Kette für Sylvie und ein Paraguay-Shirt am Straßenstand kaufe. Beruhigt schlafen wir ein. Sylvie, weil sie sich ein paar Blocker eingehauen hat und ich, weil Deutschland im Achtelfinale steht.

Am nächsten Tag liegt mein Mädchen ausgeknockt im Hotelbett. Sie kann sich kaum bewegen und möchte nur noch schlafen. So bin ich, gefühlt, der einzige Tourist in einer Stadt, die über eine Million Einwohner haben soll und schlendere durch die rot-weiß geschmückten Straßen. An jeder zweiten Ecke grüßen mich Leute und sprechen mich auf das Spiel an. Mein Spanisch ist noch immer nicht sehr gut, doch Daumen hoch und Lächeln überwindet jede Sprachbarriere.

Die Kneipe ist rappelvoll und die Stimmung am überkochen. Alle tragen Paraguay-Trikots und schwenken die mitgebrachten Fahnen. Man bietet mir, dem blonden Stargast, einen Platz in der ersten Reihe an und beginnt, mich mit Bier abzufüllen. Zur Halbzeit wissen 300 Leute, dass ich, „El Aleman“, aus Berlin komme, wo die Partie gegen Schweden gerade stattfindet und dass wir im Achtelfinale aufeinander treffen würden, falls Paraguay heute gewinnt. Werden wir nicht! In der 89. Minute ballert Ljungberg das 0:1 in den Kasten der „Albirroja“. Für einige Sekunden herrscht gespenstige Stille. Die Frau neben mir, beginnt leise zu weinen. Nach und nach werden wüste Beschimpfungen laut. Besonders Roque Santa Cruz wird übel beleidigt. „Puto“, (Stricher) und „Puta“ (Nutte), was sich wohl auf seine Mutter bezieht, brüllen einige Gäste ununterbrochen. Meine neuen rot-weißen Freunde sind außer sich vor Wut. Doch vor allem die jungen Leute verdauen das Ausscheiden ihres Teams recht schnell und laden mich in eine Karaoke-Bar ein. Da ich noch nie in so einem Laden gewesen war und den Song „Ich Roque“ aus meinem Hirn verbannen will, gehe ich kurzerhand mit.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADer Laden ist gut gefüllt und eine gemütliche Couchecke für uns reserviert. Als wir sitzen, plappern alle wild auf mich ein. Ich kann nicht fassen mit welcher Unbekümmertheit sie auch über politische Themen sprechen, in einem Land, das laut Reiseführer für unterdrückte Meinungsfreiheit steht. Und noch etwas fällt mir auf. Die Frauen sehen in Paraguay fantastisch aus. Nur in Venezuela hatte ich jemals zuvor diese Konzentration an Rassefrauen gesehen. Da sie noch immer die rot-weiß gestreiften Trikots tragen, wirken sie zudem hinreißend natürlich. Lucia, deren Haare im Kerzenlicht bläulich-schwarz schimmern und die ihr Handy lässig zwischen ihre Brüste gesteckt hat, ist die hübscheste Frau, die ich seit vielen Jahren gesehen habe. Paraguays Topmodel würde jeden Schönheitswettbewerb gewinnen. Weltweit!

Was ist denn hier los? Jede zweite, der 5-Sterne-Deluxe-Grazien, will ein Foto mit mir in Schmusepose machen. Sogar die schöne Lucia nimmt mich in die Arme und lächelt trotzig in die Linse. Ich ahne zum ersten Mal, dass diese Reise auch in anderer Hinsicht einen neuen Menschen aus mir gemacht hat. Mit den zotteligen Haaren, dem kleinen Bärtchen und vor allem mit diesem zutiefst entspannten Lächeln, strahle ich scheinbar eine Anziehungskraft aus, die ich nie für möglich gehalten hatte. Doch ich kann das Gefühl nur kurz genießen, denn die Jungs wollen gegen mich im Armdrücken antreten. Somit gibt es doch noch ein versöhnliches Ende für die Gastgeber, denn Paraguay besiegt Deutschland in dieser WM mit 3:2. Auch Edgar und Ramos, die das Geplänkel mit den Mädels zuvor noch argwöhnisch beobachtet hatten, möchten sich jetzt in Heldenpose mit mir ablichten lassen.

Nach etlichen spendierten Bier-Pitchern bin ich so entspannt, dass ich vor 150 Leuten „People are People“ von Depeche Mode ins Mikrofon krakele. Gemeinsam mit Carla summe ich sogar noch ein Lied von „Maná“. Der Applaus ist überwältigend. Glaube ich zumindest, denn mittlerweile bin ich sehr betrunken.

Die Fiesta ist noch im vollen Gange, als mich Lucia vor die Tür zerrt. Ich verstehe nicht ganz, was wir hier sollen, doch sie legt mir ihren Zeigefinger auf den Mund. Zärtlich umfasst sie meinen Hals, zieht mich zu sich herunter und küsst mich mit warmen Lippen. Doch ich lasse mich nicht fallen und vergesse, wo ich gerade bin. Augenblicklich stoße ich sie weg. Der Kuss erinnert mich daran, dass die schönste Frau des Universums im Hotel liegt und auf mich wartet. Lucia versteht das sogar und zum Abschied drücke ich sie und 40 andere Leute herzlich. Alle versprechen mir, von nun an für Deutschland zu sein. Ich glaube ihnen und schwanke allein durch die angeblich gefährlichen Gassen. Kurz nach 2 Uhr entdecke ich eine Imbissbude und lese erstaunt „Perro Caliente“ (heißer Hund). Der alte Mann drückt mir freudestrahlend einen „Hot dog“ in die Hand. Auch ihn umarme ich lange.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAWenn gleich ich noch nicht viel von Paraguay gesehen habe, spüre ich in dieser lauen Juni-Nacht, dass ich wieder im ursprünglichen Südamerika gelandet bin. In einer unberechenbaren Wunderwelt. Ich habe in kürzester Zeit so viele angenehme Menschen kennen gelernt, die sich nicht nur sehr kritisch über ihr Fußballteam, sondern auch über andere Dinge in ihrem vermeintlichen Dritte-Welt-Land geäußert haben. Doch besonders für ihre herzliche Gastfreundlichkeit konnte ich mich erwärmen. Es war mir vorgekommen, wie in der DDR, wenn Westdeutsche zu Besuch waren. Wir wollten dann auch immer, dass sie einen guten Eindruck von uns mit über die Grenze nehmen. Nur, dass uns das damals nie gelungen war. Leider müssen wir nun weiter reisen. Paraguay ist ausgeschieden.

Dieser Text stammt aus dem Buch „90 Minuten“ von Mark Scheppert. Wenn Ihr mehr lesen wollt, dann freut sich der Autor sicher, wenn Ihr Euch das Buch z.b. bei Amazon bestellt.

Toby

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